Ernsthafte Erkrankung oder Modeerscheinung?
„Hyperaktivität“ ist in aller
Munde. Aber was ist damit überhaupt gemeint und wieso stößt man
immer häufiger auf das Problem?
Zuerst wurden unsere Kinder hyperaktiv
und jetzt auch schon die Hunde? Ist das ansteckend? Oder ist es
einfach nur eine praktische Modediagnose um Erziehungsfehler zu
rechtfertigen und der Pharmaindustrie Geld in den Rachen zu werfen?
Nichts von alle dem! „Hyperaktivität“
ist keine Krankheit, sondern ein Symptom. Der Begriff ist abgeleitet
vom altgriechischen „hyper“, was soviel wie „über“
bedeutet und vom lateinischen „agere“ (handeln,
tätig sein), es bezeichnet also eine vermehrte Aktivität im
Vergleich zum „normalen Durchschnitt“. Wikipedia definiert
Hyperaktivität folgendermaßen:
„Hyperaktivität
ist ein von Betroffenen nicht hinreichend kontrollierbares,
überaktives Verhalten. Ausgehend von innerer Ruhelosigkeit,
manifestiert sie sich in der Regel in Form von motorischer Unruhe und
„überschießenden Reaktionen“ Allerdings
mit dem Hinweis darauf, dass für diesen Artikel Einzelnachweise
fehlen und er einer Überarbeitung bedarf, aber gehen wir einmal
davon aus, dass das so richtig ist.
Hyperaktivität
kann ein Symptom, also ein Anzeichen, für eine Erkrankung sein –
sowohl einer körperlichen, also auch einer psychischen. Die
bekannteste Krankheit aus dem Humanbereich, die zu Hyperaktivität
führen kann, ist ADHS
(Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder auch
Hyperkinetische Störung. Diese tritt vor allem bei Kindern auf und
wird durch einen Merkmalskatalog genau definiert. Zu diesen Merkmalen
gehören:
- Unaufmerksamkeit: Betroffene sind leicht ablenkbar, haben Schwierigkeiten sich längere Zeit auf eine (ungeliebte) Aufgabe zu konzentrieren, machen Flüchtigkeitsfehler, verlieren häufig Gegenstände, sind vergesslich und können Erklärungen nicht folgen usw.
- Überaktivität: Betroffene haben Schwierigkeiten still zu sitzen, zeigen exzessive motorische Aktivität, selbst wenn diese unpassend oder verboten ist, sind häufig unnötig laut usw.
- Impulsivität: Betroffene sind ungeduldig, reden viel auch wenn es unpassend ist und unterbrechen und stören häufig andere
Diese
Merkmale müssen über einen längeren Zeitraum bestehen, in
verschiedenen Kontexten vorkommen (also z.B. nicht nur in der Schule)
und dazu führen, dass der Betroffene darunter leidet und
eingeschränkt ist um die Kriterien für die Diagnose ADHS bzw.
Hyperkinetische Störung zu erfüllen. Außerdem müssen sie klar von
anderen psychischen Störungen abgrenzbar sein.
ADHS
wird heutzutage immer häufiger diagnostiziert. Und das ist nicht
ganz unkritisch zu bewerten. Zwar ist es gut und wichtig, dass
Betroffene Hilfe bekommen, aber es darf nicht zu einer Modediagnose
werden und dazu führen, dass Kinder unnötiger Weise Medikamente
bekommen. Nicht jedes lästige, lebhafte Kind hat ADHS und kann ganz
einfach mit Pillen ruhig gestellt werden.
Man
darf auch nicht vergessen, dass die Pharmaindustrie natürlich ein
großes Interesse daran hat ihre Produkte zu verkaufen und es ist
wichtig hier stets kritisch zu hinterfragen.
Selbst
mittels genauer Merkmalskataloge und hochmodernen
neurowissenschaftlichen Methoden ist die Frage was Normalverhalten
ist und ab wann es krankhaft wird oft nicht klar zu beantworten. Der
amerikanische Autor Thom Hartmann, der selbst ADHS hat z.B. vertritt
die These, dass ADHS keine Krankheit sei, sondern eine Art zu leben,
die bis zu den Jägern und Sammlern in der Steinzeit zurückzuführen
sei, jedoch nicht in die heutige Gesellschaft passt. Er vergleicht
ADHS-betroffene mit Jägern und die Mehrheit der Gesellschaft mit
sesshaft gewordenen Bauern. Sein Ziel ist es einen anderen
Blickwinkel zu schaffen und vor allem auch die positiven Eigenschaft
von ADHS-Betroffenen hervorzuheben. Diese sind z.B.:
- Durch ihre Hypersensibilität erfassen sie Veränderungen besonders schnell. So haben Betroffene häufig auch eine besonders gute Empathie und daher einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
- Oft sind sind sie besonders begeisterungsfähig und kreativ.
- Auch Impulsivität muss nicht zwangsläufig schlecht sein, sondern führt dazu, dass Entscheidungen schnell getroffen werden. Impulsive Menschen sind meist offen und interessante Gesprächspartner.
- Zwar ist Unaufmerksamkeit im Allgemeinen ein typisches Anzeichen für ADHS-Patienten, jedoch kann es bei bestimmten Themen / Aufgaben zu einem Hyperfokus kommen, ähnlich einem Flow (Schaffensrausch), bei dem lange, ausdauernd und konzentriert gearbeitet wird (was natürlich auch wieder negativ sein kann, wenn man sich zu sehr in ein Thema vertieft und darüber die äußere Realität vernachlässigt).Hyperaktive Menschen begeistern sich auch häufig für Leistungssport.
Leon Eisenberg, hat in einem Interview kurz vor seinem Tod übrigens ADHS als "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Krankheit" bezeichnet. Er gilt als "wissenschaftlicher Vater" oder eben auch als Erfinder der Störung.
Warum
erzähl ich das alles? Wir wollten doch nicht über ADHS bei Kindern,
sondern über Hyperaktivität bei Hunden reden.
Nun,
das liegt daran, dass es keine eindeutige wissenschaftliche
Definition für Hyperaktivität bei Hunden gibt. Das Wort
„hyperaktiv“ beschreibt meiner Meinung nach das problematische
Verhalten betroffener Hunde nur unzureichend und die Definition von
ADHS trifft es schon eher, denn zu ADHS gehören ja neben der
Überaktivität auch noch Unaufmerksamkeit und Impulsivität –
Probleme mit denen auch „hyperaktive“ Hunde häufig zu tun haben.
Trotzdem,
die Diagnose ADHS kann so bei Hunden nicht gestellt werden, weil es
keine hinreichenden wissenschaftlichen Studien über psychische
Störungen bei Hunden gibt.
Das
möchte ich erwähnt haben, denn ich halte es für wichtig nicht
einfach irgendetwas daher zu diagnostizieren ohne irgendwelche
wissenschaftlichen Anhaltspunkte zu haben! Mag etwas überkorrekt von
mir sein und ich geb' ja zu, privat bezeichne ich Hunde die bestimmte
Merkmale haben auch mal scherzhaft als ADHSler. Aber wenn wir uns
ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen möchten ist es wichtig
offen und kritisch zu bleiben. Unüberlegte Diagnosen führen zu
Missbrauch – wie Ausrede für mangelhafte Erziehung oder
Haltungsfehler und unnötige oder sogar schädliche Therapien mit
Medikamenten.
Und
weil es bei Hunden kein klar definiertes Krankheitsbild gibt, ist es
noch schwerer als im Humanbereich zu sagen, welches Verhalten normal
ist und welches nicht.
Die
Lebhaftigkeit von Hunden ist sehr individuell. Ein junger Hund ist
natürlich aktiver als ein Alter – ist er deshalb hyperaktiv? Auch
die Rassezugehörigkeit spielt eine Rolle. Rassen die einen
bestimmten Zweck erfüllen sollten wurden auf die positiven Aspekte
von ADHS (s.o.) selektiert: Hyperfokus auf eine Aufgabe,
Hypersensibilität um Veränderungen schnell zu bemerken und
Impulsivität um schnell darauf zu reagieren... dies bringt natürlich
auch Nachteile mit sich.
Urtypische
Hunde sind von Natur aus vorsichtig und reagieren auf jede kleine
Veränderung in ihrem Umfeld. Sind sie hyperaktiv? Oder einfach nur
wachsam, was ja Sinn macht, wenn man in der freien Wildbahn überleben
möchte... ist das eine Art als Jäger und Sammler zu leben und ist
nur unsere Bauerngesellschaft schuld daran, dass das zu Problemen
führt, wie Hartmann's These besagt?
Ob
Bauern oder nicht ;) Unsere Gesellschaft wird zunehmend
hundefeindlicher und die Anforderungen an Hunde schon fast utopisch.
Hunde sollen möglichst gar nicht mehr auffallen. Am besten in einer
Ecke liegen, keinen Mux machen und keine Ansprüche stellen. Sie sollen immer machen, was man ihnen sagt, still sein und mit allem und
jedem auskommt ohne sich jemals zur Wehr zu setzen oder gestresst zu
werden. Wenn das heute als „Normalverhalten“ angesehen wird ist
es kein Wunder, dass es immer mehr „abnormale“ Hunde gibt, die
von dieser unrealistischen Traumvorstellung abweichen. Bei Kindern
ist das übrigens nicht viel anders, die haben auch still zu sein und
zu funktionieren, andernfalls sind sie ja offensichtlich krank und
brauchen Medikamente... wäre ja praktisch, wenn alles so einfach
wäre.
Ist
es nicht! Jeder Hund ist ein Individuum und hat einen Charakter und
nicht jede unpassende Charaktereigenschaft muss gleich eine
psychische Störung sein.
Das
alles mal nur als kleiner Denkanstoß: Immer kritisch bleiben und
alles hinterfragen ;)
Für
die Problematik mit „hyperaktiven“ Hunden ist es gar nicht so
wichtig, wie man die Sache jetzt nennt.
Wichtig
ist, wenn der Hund ein Verhalten an den Tag legt unter dem er selbst
und/oder seine Besitzer leiden, dann besteht Handlungsbedarf!
So
auch beim Mali. Er hat unter seinem Verhalten in Neudorf nicht
gelitten und ich auch nicht. Er war ein normaler Hund, der sich eben
mit seinen Hundesachen beschäftigt hat. Dabei hatte er genug
Bewegung und Stimulation ohne dabei aber übermäßigen Stress
ausgesetzt zu sein.
Heute
ist er der gleiche Hund mit der gleichen Besitzerin, aber wir leben
jetzt in der Stadt und hier ist es mir nicht möglich ihm unter
diesen Umständen ausreichend Bewegung und Stimulation zu bieten, was
wiederum zu einer Verstärkung des Problems führt. Also herrscht
Handlungsbedarf, egal ob wir es als Normalverhalten eines urtypischen
Hundes vom Land bezeichnen oder als krankhafte Verhaltenstörung.
Einzig
dem subjektiven Empfinden des Besitzers muss man es aber nicht
überlassen, ob ein Hund als hyperaktiv gilt oder nicht. Es gibt
schon eine Reihe von Merkmalen / Verhaltensweisen die solche Hunde
typischer Weise an den Tag legen. Sie können einzeln vorkommen oder
auch alle zusammen.
Diese
sind eben sehr ähnlich dem ADHS Merkmalskatalog:
- Unaufmerksamkeit: die Hunde sind leicht ablenkbar und können sich auf eine Aufgabe nicht lange konzentrieren, sie machen häufig Fehler, ihr Lernvermögen ist herabgesetzt und sie scheinen bereits erlerntes wieder zu vergessen
- Überaktivität: den Hunden fällt es schwer still zu stehen, sie haben einen übermäßigen Drang nach Bewegung, Bewegungsabläufe sind exzessiv (besonders schnell, wild usw.). Sie werden nicht gerne festgehalten und ziehen an Leine. Auch exzessives Bellen gehört in diese Kategorie. In schweren Fällen sind die Hunde nicht in der Lage sich zu entspannen und wandern auch zu Hause ständig umher, legen sich nur selten hin, leiden an Schlafmangel usw.
- Impulsivität: die Hunde sind ungeduldig und haben eine mangelhafte Frustrationstoleranz, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Sie können sich nicht „zusammen reißen“ und reagieren übertrieben auf Reize (gestörte Impulskontrolle). Sie sind aufdringlich und belästigen damit häufig Personen und/oder andere Hunde, verlangen nach ständiger Beschäftigung/Aufmerksamkeit.
- Hypersensibilität / Besondere Reizempfindlichkeit: sie reagieren auf jeden noch so kleinen Umweltreiz und das meist in übertriebener Art und Weise. Oft suchen sie regelrecht nach Auslösereizen für überaktives Verhalten.
In
weiterer Folge können solche Hunde vor allem auf Grund der
mangelnden Frustrationstoleranz auch vermehrt aggressives Verhalten
zeigen. Auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (Festhalten,
Halsband anlegen usw.) können Abwehraggression hervorrufen.
Typisch
ist auch, dass solche Hunde scheinbar resistent gegen Strafen sind.
Besonders positive Strafen (= das Hinzufügen von etwas unangenehmen,
z.B. Anschreien, Leinenruck, Schläge usw.) wirkt eher aktivierend
und verstärkt das Verhalten. Vor allem wenn der Hund nach
Aufmerksamkeit sucht, können sie sogar als Belohnung wirken.
Immerhin hat der Hund Aufmerksamkeit bekommen.
Welche
Merkmale ein Hund an den Tag legt und in welchem Schweregrad ist sehr
individuell, ebenso wie die Frage, ab wann Mensch und Hund darunter
leiden.
Mali
zeigt längst nicht alle dieser Merkmale. Gott sei dank ist er in der
Lage sich zu Hause zu entspannen, er schläft viel und belästigt
seine Mama – mit der er zusammen lebt nicht ununterbrochen.
Überaktivität und Personenbezogenes (aufdringliches) Verhalten
zeigt er nur bei Aktivierung, also wenn man sich mit ihm beschäftigt.
Das ist dann aber immer gleich Vollgas. Eine ruhige Beschäftigung
mit ihm ist derzeit nicht möglich.
Strafe
wirkt auf ihn aktivierend („Juhuu heute will Frauli endlich mal
richtig wild spielen“). Wobei ich betonen möchte, dass ich meine
Hund niemals absichtlich für „Fehlverhalten“ positiv bestrafe!
Aber man ist halt auch nur ein Mensch und wehrt einen 30kg Hund der
einem in die Magengrube springt auch mal mit den Händen ab oder
schreit und flucht vor Schmerzen wenn er einem beim Schnellstart die
Krallen in die nackten Füße rammt - selbst wenn man sich der
pädagogischen Sinnlosigkeit bewusst ist ;)
Auch
die besondere Reizempfindlichkeit zeigt er nur bei neuen Reizen, dann
aber auch extrem, sodass er regelrecht zusammenklappen kann, wenn ihn
eine Situation überfordert. Davon erholt er sich aber genauso
schnell wieder, wie es gekommen ist und kann sich sofort wieder einer
neuen Beschäftigung widmen.
Er
hat kein Aufmerksamkeits- und Lernproblem. Er ist extrem intelligent
und lernt sehr schnell. Er fällt beim Training eher in einen
Hyperfokus. Trotzdem kann man immer nur sehr kurz mit ihm trainieren,
da er sich sehr in die Aufgabe hineinsteigert und dabei sehr
aufgeregt wird. Daher wird er immer ungenauer und gestresster je
länger die Trainingseinheit dauert, die Fehlerquote steigt und die
Belohnungsrate sinkt. Beides würde längerfristig die
Frustrationstoleranz übersteigen und den Trainingserfolg mindern.
Warum
ich ihn als hyperaktiv und nicht einfach nur als lebhaft und
unerzogen einstufen würde ist vor allem, dass er nicht in der Lage
ist sich selbst zu beruhigen, wenn er mal hochfährt. Meine Hunde
sind alle lebhaft (und mehr oder weniger unerzogen ;) und benehmen
sich z.B. in einer Begrüßungssituation schon mal daneben – sind
aufgeregt, springen die Menschen an usw. aber im Gegensatz zu Mali
dauert das nicht lange. Es ist eine normale Reaktion auf das
Auftauchen eines Menschen und sie wurden nicht gezielt auf
Nicht-Anspringen bzw. ruhiges Verhalten trainiert. Dann ist's aber
gut. Mensch begrüßt – Sache erledigt. Mali beruhigt sich in
solchen Situationen nicht von sich aus und er ist sofort wieder
aktiviert, wenn der Mensch sich bewegt oder ihn gar anspricht.
Soviel mal zur Definition, damit wir auch wissen worüber wir reden... damit hab ich für heute wahrscheinlich mehr als genug geschwafelt ;)
Das nächste mal kommen wir dann zu den Ursachen für hyperaktives Verhalten und es wird auch Zeit endlich mal vom Training zu berichten :)
Lieteraturnachweis:
wikipedia.de
Belch, Jörg: Schwermut ohne Scham in Der Spiegel, Ausgabe 6/2012
Hense, Maria: Der hyperaktive Hund. animal learn Verlag. Bernau 2010
Hense, Maria: Der hyperaktive Hund. animal learn Verlag. Bernau 2010
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