Freitag, 25. April 2014

Was ist Hyperaktivität überhaupt?

Ernsthafte Erkrankung oder Modeerscheinung?


„Hyperaktivität“ ist in aller Munde. Aber was ist damit überhaupt gemeint und wieso stößt man immer häufiger auf das Problem?
Zuerst wurden unsere Kinder hyperaktiv und jetzt auch schon die Hunde? Ist das ansteckend? Oder ist es einfach nur eine praktische Modediagnose um Erziehungsfehler zu rechtfertigen und der Pharmaindustrie Geld in den Rachen zu werfen?

Nichts von alle dem! „Hyperaktivität“ ist keine Krankheit, sondern ein Symptom. Der Begriff ist abgeleitet vom altgriechischen „hyper“, was soviel wie „über“ bedeutet und vom lateinischen „agere“ (handeln, tätig sein), es bezeichnet also eine vermehrte Aktivität im Vergleich zum „normalen Durchschnitt“. Wikipedia definiert Hyperaktivität folgendermaßen:
Hyperaktivität ist ein von Betroffenen nicht hinreichend kontrollierbares, überaktives Verhalten. Ausgehend von innerer Ruhelosigkeit, manifestiert sie sich in der Regel in Form von motorischer Unruhe und „überschießenden Reaktionen“ Allerdings mit dem Hinweis darauf, dass für diesen Artikel Einzelnachweise fehlen und er einer Überarbeitung bedarf, aber gehen wir einmal davon aus, dass das so richtig ist.

Hyperaktivität kann ein Symptom, also ein Anzeichen, für eine Erkrankung sein – sowohl einer körperlichen, also auch einer psychischen. Die bekannteste Krankheit aus dem Humanbereich, die zu Hyperaktivität führen kann, ist ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder auch Hyperkinetische Störung. Diese tritt vor allem bei Kindern auf und wird durch einen Merkmalskatalog genau definiert. Zu diesen Merkmalen gehören:
  • Unaufmerksamkeit: Betroffene sind leicht ablenkbar, haben Schwierigkeiten sich längere Zeit auf eine (ungeliebte) Aufgabe zu konzentrieren, machen Flüchtigkeitsfehler, verlieren häufig Gegenstände, sind vergesslich und können Erklärungen nicht folgen usw.
  • Überaktivität: Betroffene haben Schwierigkeiten still zu sitzen, zeigen exzessive motorische Aktivität, selbst wenn diese unpassend oder verboten ist, sind häufig unnötig laut usw.
  • Impulsivität: Betroffene sind ungeduldig, reden viel auch wenn es unpassend ist und unterbrechen und stören häufig andere
Diese Merkmale müssen über einen längeren Zeitraum bestehen, in verschiedenen Kontexten vorkommen (also z.B. nicht nur in der Schule) und dazu führen, dass der Betroffene darunter leidet und eingeschränkt ist um die Kriterien für die Diagnose ADHS bzw. Hyperkinetische Störung zu erfüllen. Außerdem müssen sie klar von anderen psychischen Störungen abgrenzbar sein.

ADHS wird heutzutage immer häufiger diagnostiziert. Und das ist nicht ganz unkritisch zu bewerten. Zwar ist es gut und wichtig, dass Betroffene Hilfe bekommen, aber es darf nicht zu einer Modediagnose werden und dazu führen, dass Kinder unnötiger Weise Medikamente bekommen. Nicht jedes lästige, lebhafte Kind hat ADHS und kann ganz einfach mit Pillen ruhig gestellt werden.
Man darf auch nicht vergessen, dass die Pharmaindustrie natürlich ein großes Interesse daran hat ihre Produkte zu verkaufen und es ist wichtig hier stets kritisch zu hinterfragen.
Selbst mittels genauer Merkmalskataloge und hochmodernen neurowissenschaftlichen Methoden ist die Frage was Normalverhalten ist und ab wann es krankhaft wird oft nicht klar zu beantworten. Der amerikanische Autor Thom Hartmann, der selbst ADHS hat z.B. vertritt die These, dass ADHS keine Krankheit sei, sondern eine Art zu leben, die bis zu den Jägern und Sammlern in der Steinzeit zurückzuführen sei, jedoch nicht in die heutige Gesellschaft passt. Er vergleicht ADHS-betroffene mit Jägern und die Mehrheit der Gesellschaft mit sesshaft gewordenen Bauern. Sein Ziel ist es einen anderen Blickwinkel zu schaffen und vor allem auch die positiven Eigenschaft von ADHS-Betroffenen hervorzuheben. Diese sind z.B.:
  • Durch ihre Hypersensibilität erfassen sie Veränderungen besonders schnell. So haben Betroffene häufig auch eine besonders gute Empathie und daher einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
  • Oft sind sind sie besonders begeisterungsfähig und kreativ.
  • Auch Impulsivität muss nicht zwangsläufig schlecht sein, sondern führt dazu, dass Entscheidungen schnell getroffen werden. Impulsive Menschen sind meist offen und interessante Gesprächspartner.
  • Zwar ist Unaufmerksamkeit im Allgemeinen ein typisches Anzeichen für ADHS-Patienten, jedoch kann es bei bestimmten Themen / Aufgaben zu einem Hyperfokus kommen, ähnlich einem Flow (Schaffensrausch), bei dem lange, ausdauernd und konzentriert gearbeitet wird (was natürlich auch wieder negativ sein kann, wenn man sich zu sehr in ein Thema vertieft und darüber die äußere Realität vernachlässigt).
    Hyperaktive Menschen begeistern sich auch häufig für Leistungssport.
Leon Eisenberg, hat in einem Interview kurz vor seinem Tod übrigens ADHS als "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Krankheit" bezeichnet. Er gilt als "wissenschaftlicher Vater" oder eben auch als Erfinder der Störung.

Warum erzähl ich das alles? Wir wollten doch nicht über ADHS bei Kindern, sondern über Hyperaktivität bei Hunden reden.
Nun, das liegt daran, dass es keine eindeutige wissenschaftliche Definition für Hyperaktivität bei Hunden gibt. Das Wort „hyperaktiv“ beschreibt meiner Meinung nach das problematische Verhalten betroffener Hunde nur unzureichend und die Definition von ADHS trifft es schon eher, denn zu ADHS gehören ja neben der Überaktivität auch noch Unaufmerksamkeit und Impulsivität – Probleme mit denen auch „hyperaktive“ Hunde häufig zu tun haben.
Trotzdem, die Diagnose ADHS kann so bei Hunden nicht gestellt werden, weil es keine hinreichenden wissenschaftlichen Studien über psychische Störungen bei Hunden gibt.
Das möchte ich erwähnt haben, denn ich halte es für wichtig nicht einfach irgendetwas daher zu diagnostizieren ohne irgendwelche wissenschaftlichen Anhaltspunkte zu haben! Mag etwas überkorrekt von mir sein und ich geb' ja zu, privat bezeichne ich Hunde die bestimmte Merkmale haben auch mal scherzhaft als ADHSler. Aber wenn wir uns ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen möchten ist es wichtig offen und kritisch zu bleiben. Unüberlegte Diagnosen führen zu Missbrauch – wie Ausrede für mangelhafte Erziehung oder Haltungsfehler und unnötige oder sogar schädliche Therapien mit Medikamenten.
Und weil es bei Hunden kein klar definiertes Krankheitsbild gibt, ist es noch schwerer als im Humanbereich zu sagen, welches Verhalten normal ist und welches nicht.
Die Lebhaftigkeit von Hunden ist sehr individuell. Ein junger Hund ist natürlich aktiver als ein Alter – ist er deshalb hyperaktiv? Auch die Rassezugehörigkeit spielt eine Rolle. Rassen die einen bestimmten Zweck erfüllen sollten wurden auf die positiven Aspekte von ADHS (s.o.) selektiert: Hyperfokus auf eine Aufgabe, Hypersensibilität um Veränderungen schnell zu bemerken und Impulsivität um schnell darauf zu reagieren... dies bringt natürlich auch Nachteile mit sich.
Urtypische Hunde sind von Natur aus vorsichtig und reagieren auf jede kleine Veränderung in ihrem Umfeld. Sind sie hyperaktiv? Oder einfach nur wachsam, was ja Sinn macht, wenn man in der freien Wildbahn überleben möchte... ist das eine Art als Jäger und Sammler zu leben und ist nur unsere Bauerngesellschaft schuld daran, dass das zu Problemen führt, wie Hartmann's These besagt?
Ob Bauern oder nicht ;) Unsere Gesellschaft wird zunehmend hundefeindlicher und die Anforderungen an Hunde schon fast utopisch. Hunde sollen möglichst gar nicht mehr auffallen. Am besten in einer Ecke liegen, keinen Mux machen und keine Ansprüche stellen. Sie sollen immer machen, was man ihnen sagt, still sein und mit allem und jedem auskommt ohne sich jemals zur Wehr zu setzen oder gestresst zu werden. Wenn das heute als „Normalverhalten“ angesehen wird ist es kein Wunder, dass es immer mehr „abnormale“ Hunde gibt, die von dieser unrealistischen Traumvorstellung abweichen. Bei Kindern ist das übrigens nicht viel anders, die haben auch still zu sein und zu funktionieren, andernfalls sind sie ja offensichtlich krank und brauchen Medikamente... wäre ja praktisch, wenn alles so einfach wäre.
Ist es nicht! Jeder Hund ist ein Individuum und hat einen Charakter und nicht jede unpassende Charaktereigenschaft muss gleich eine psychische Störung sein.

Das alles mal nur als kleiner Denkanstoß: Immer kritisch bleiben und alles hinterfragen ;)
Für die Problematik mit „hyperaktiven“ Hunden ist es gar nicht so wichtig, wie man die Sache jetzt nennt.
Wichtig ist, wenn der Hund ein Verhalten an den Tag legt unter dem er selbst und/oder seine Besitzer leiden, dann besteht Handlungsbedarf!
So auch beim Mali. Er hat unter seinem Verhalten in Neudorf nicht gelitten und ich auch nicht. Er war ein normaler Hund, der sich eben mit seinen Hundesachen beschäftigt hat. Dabei hatte er genug Bewegung und Stimulation ohne dabei aber übermäßigen Stress ausgesetzt zu sein.
Heute ist er der gleiche Hund mit der gleichen Besitzerin, aber wir leben jetzt in der Stadt und hier ist es mir nicht möglich ihm unter diesen Umständen ausreichend Bewegung und Stimulation zu bieten, was wiederum zu einer Verstärkung des Problems führt. Also herrscht Handlungsbedarf, egal ob wir es als Normalverhalten eines urtypischen Hundes vom Land bezeichnen oder als krankhafte Verhaltenstörung.

Einzig dem subjektiven Empfinden des Besitzers muss man es aber nicht überlassen, ob ein Hund als hyperaktiv gilt oder nicht. Es gibt schon eine Reihe von Merkmalen / Verhaltensweisen die solche Hunde typischer Weise an den Tag legen. Sie können einzeln vorkommen oder auch alle zusammen.
Diese sind eben sehr ähnlich dem ADHS Merkmalskatalog:

  • Unaufmerksamkeit: die Hunde sind leicht ablenkbar und können sich auf eine Aufgabe nicht lange konzentrieren, sie machen häufig Fehler, ihr Lernvermögen ist herabgesetzt und sie scheinen bereits erlerntes wieder zu vergessen
  • Überaktivität: den Hunden fällt es schwer still zu stehen, sie haben einen übermäßigen Drang nach Bewegung, Bewegungsabläufe sind exzessiv (besonders schnell, wild usw.). Sie werden nicht gerne festgehalten und ziehen an Leine. Auch exzessives Bellen gehört in diese Kategorie. In schweren Fällen sind die Hunde nicht in der Lage sich zu entspannen und wandern auch zu Hause ständig umher, legen sich nur selten hin, leiden an Schlafmangel usw.
  • Impulsivität: die Hunde sind ungeduldig und haben eine mangelhafte Frustrationstoleranz, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Sie können sich nicht „zusammen reißen“ und reagieren übertrieben auf Reize (gestörte Impulskontrolle). Sie sind aufdringlich und belästigen damit häufig Personen und/oder andere Hunde, verlangen nach ständiger Beschäftigung/Aufmerksamkeit.
  • Hypersensibilität / Besondere Reizempfindlichkeit: sie reagieren auf jeden noch so kleinen Umweltreiz und das meist in übertriebener Art und Weise. Oft suchen sie regelrecht nach Auslösereizen für überaktives Verhalten.

In weiterer Folge können solche Hunde vor allem auf Grund der mangelnden Frustrationstoleranz auch vermehrt aggressives Verhalten zeigen. Auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (Festhalten, Halsband anlegen usw.) können Abwehraggression hervorrufen.
Typisch ist auch, dass solche Hunde scheinbar resistent gegen Strafen sind. Besonders positive Strafen (= das Hinzufügen von etwas unangenehmen, z.B. Anschreien, Leinenruck, Schläge usw.) wirkt eher aktivierend und verstärkt das Verhalten. Vor allem wenn der Hund nach Aufmerksamkeit sucht, können sie sogar als Belohnung wirken. Immerhin hat der Hund Aufmerksamkeit bekommen.

Welche Merkmale ein Hund an den Tag legt und in welchem Schweregrad ist sehr individuell, ebenso wie die Frage, ab wann Mensch und Hund darunter leiden.

Mali zeigt längst nicht alle dieser Merkmale. Gott sei dank ist er in der Lage sich zu Hause zu entspannen, er schläft viel und belästigt seine Mama – mit der er zusammen lebt nicht ununterbrochen. Überaktivität und Personenbezogenes (aufdringliches) Verhalten zeigt er nur bei Aktivierung, also wenn man sich mit ihm beschäftigt. Das ist dann aber immer gleich Vollgas. Eine ruhige Beschäftigung mit ihm ist derzeit nicht möglich.
Strafe wirkt auf ihn aktivierend („Juhuu heute will Frauli endlich mal richtig wild spielen“). Wobei ich betonen möchte, dass ich meine Hund niemals absichtlich für „Fehlverhalten“ positiv bestrafe! Aber man ist halt auch nur ein Mensch und wehrt einen 30kg Hund der einem in die Magengrube springt auch mal mit den Händen ab oder schreit und flucht vor Schmerzen wenn er einem beim Schnellstart die Krallen in die nackten Füße rammt - selbst wenn man sich der pädagogischen Sinnlosigkeit bewusst ist ;)
Auch die besondere Reizempfindlichkeit zeigt er nur bei neuen Reizen, dann aber auch extrem, sodass er regelrecht zusammenklappen kann, wenn ihn eine Situation überfordert. Davon erholt er sich aber genauso schnell wieder, wie es gekommen ist und kann sich sofort wieder einer neuen Beschäftigung widmen.
Er hat kein Aufmerksamkeits- und Lernproblem. Er ist extrem intelligent und lernt sehr schnell. Er fällt beim Training eher in einen Hyperfokus. Trotzdem kann man immer nur sehr kurz mit ihm trainieren, da er sich sehr in die Aufgabe hineinsteigert und dabei sehr aufgeregt wird. Daher wird er immer ungenauer und gestresster je länger die Trainingseinheit dauert, die Fehlerquote steigt und die Belohnungsrate sinkt. Beides würde längerfristig die Frustrationstoleranz übersteigen und den Trainingserfolg mindern.
Warum ich ihn als hyperaktiv und nicht einfach nur als lebhaft und unerzogen einstufen würde ist vor allem, dass er nicht in der Lage ist sich selbst zu beruhigen, wenn er mal hochfährt. Meine Hunde sind alle lebhaft (und mehr oder weniger unerzogen ;) und benehmen sich z.B. in einer Begrüßungssituation schon mal daneben – sind aufgeregt, springen die Menschen an usw. aber im Gegensatz zu Mali dauert das nicht lange. Es ist eine normale Reaktion auf das Auftauchen eines Menschen und sie wurden nicht gezielt auf Nicht-Anspringen bzw. ruhiges Verhalten trainiert. Dann ist's aber gut. Mensch begrüßt – Sache erledigt. Mali beruhigt sich in solchen Situationen nicht von sich aus und er ist sofort wieder aktiviert, wenn der Mensch sich bewegt oder ihn gar anspricht.


Soviel mal zur Definition, damit wir auch wissen worüber wir reden... damit hab ich für heute wahrscheinlich mehr als genug geschwafelt ;)
Das nächste mal kommen wir dann zu den Ursachen für hyperaktives Verhalten und es wird auch Zeit endlich mal vom Training zu berichten :)

Lieteraturnachweis:

wikipedia.de
Belch, Jörg: Schwermut ohne Scham in Der Spiegel, Ausgabe 6/2012
Hense, Maria: Der hyperaktive Hund. animal learn Verlag. Bernau 2010

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